Gericht:BVerwG 5. Senat
Entscheidungsdatum:30.11.1966
Aktenzeichen:V C 29.66
Dokumenttyp:Urteil
Quelle:
Normen:§ 3 BSHG, § 7 BSHG, § 11 BSHG, § 12 BSHG, § 21 BSHG, § 22 BSHG, § 76 BSHG, § 1 RegSatzV, §§ 1ff RegSatzV, § 1 Abs 2 BSHG

Beurteilungszeitpunkt im Sozialhilferecht

 
 

Leitsatz

1.1 Bei der verwaltungsgerichtlichen Nachprüfung des Begehrens auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz ist die tatsächliche Entwicklung des Sozialhilfefalles nach Erlaß des letzten behördlichen Bescheides außer acht zu lassen.

1.2 Jeder einzelne Hilfesuchende hat einen selbständigen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt. Eine Zusammenrechnung des Familieneinkommens ist deshalb nicht zulässig, soweit nicht etwas anderes bestimmt ist.

1.3 Die in der Regelsatzverordnung festgelegten Verhältniszahlen entsprechen inhaltlich dem Bundessozialhilfegesetz.

1.4 Die in Bayern festgesetzten Mindestregelsätze, soweit sie für die im Jahre 1963 zu gewährende Hilfe zum Lebensunterhalt maßgebend sind, entsprechen dem Gebot des Bundessozialhilfegesetzes, dem Empfänger der Hilfe zum Lebensunterhalt ein Leben zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht.

 

Fundstellen

BVerwGE 25, 307-318 (Leitsatz 1 und Gründe)
ZfSH 1967, 180
FEVS 14, 243
BayVBl 1967, 315
NDV 1967, 281
Buchholz 436.0 § 11 BSHG Nr 2 (Leitsatz und Gründe)
DÖV 1967, 640 (Leitsatz 1-2 und Gründe)
 

Diese Entscheidung wird zitiert

Rechtsprechung
Vergleiche SG Berlin 94. Kammer, 31. Oktober 2006, Az: S 94 AS 12047/05-06
So auch Hamburgisches Oberverwaltungsgericht 4. Senat, 30. März 1994, Az: Bs IV 56/94
Anschluß Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen 2. Senat, 22. Februar 1991, Az: 2 B 16/91
Änderung Oberverwaltungsgericht Berlin 6. Senat, 7. Dezember 1972, Az: VI S 14.72
Festhaltung BVerwG 5. Senat, 29. September 1971, Az: V C 110.70
Ergänzung BVerwG 5. Senat, 15. November 1967, Az: V C 71.67
 

Tatbestand

1

Die verwitwete Klägerin zu 1) hat fünf in den Jahren 1939, 1941, 1946, 1949 und 1950 geborene Kinder. Sie beantragte bei dem Beklagten Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz. In dem Formularantrag vom 14. Februar 1963 gab sie an, selbst 97,70 DM an Witwenrente zu beziehen. Ferner waren als Einkommen angegeben: Waisenrente für die im Jahre 1950 geborene R, den im Jahre 1949 geborenen W und die Tochter T in Höhe von 199,80 DM und Kindergeld für die beiden letztgeborenen Kinder in Höhe von 65 DM.

2

Mit Bescheid vom 3. Mai 1963 lehnte der Beklagte die Gewährung von Sozialhilfe ab.

3

Der Widerspruch der Klägerin zu 1) hatte keinen Erfolg. In dem Widerspruchsbescheid vom 2. September 1963 ist unter anderem ausgeführt, für die Bedarfsberechnung kämen neben der Klägerin zu 1) deren Kinder R und W in Betracht, da die drei anderen Kinder über eigenes Einkommen verfügten. Der sich hiernach ergebende Bedarf bleibe mit monatlich 266,40 DM unter dem Einkommen, das sich aus der Witwenrente von 97,70 DM, der Waisenrente für die Kinder W und R in Höhe von 133,20 DM und dem Kindergeld für die beiden Kinder in Höhe von 65 DM zusammensetze.

4

Klage und Berufung hatten keinen Erfolg.

5

Gegen das Urteil des Berufungsgerichts richtet sich die vom Senat zugelassene Revision der Kläger. Sie rügen Verletzung des materiellen Rechts. Das Berufungsgericht habe verkannt, daß die Hilfe zum Lebensunterhalt für jeden Hilfesuchenden selbständig zu berechnen sei. Auch sei die Bemessung der Hilfe zum Lebensunterhalt nach den Regelsätzen, soweit sie nicht 200 DM monatlich erreichten, nicht geeignet, den Klägern ein Leben zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspreche.

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Die Kläger beantragen,

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unter Aufhebung des Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 28. Januar 1965 und des Urteils des Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 30. Januar 1964 die entgegenstehenden Bescheide des Beklagten aufzuheben und den Beklagten für verpflichtet zu erklären, an die Kläger je 200 DM monatlich Hilfe zum Lebensunterhalt abzüglich des eigenen Einkommens zu gewähren,

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hilfsweise,

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die Bescheide des Beklagten vom 3. Mai 1963 und vom 2. September 1963 aufzuheben und den Beklagten für verpflichtet zu erklären, den Klägern Hilfe zum Lebensunterhalt in der vorbezeichneten Höhe zu gewähren.

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Der Beklagte hat keinen Antrag gestellt.

11

Der Oberbundesanwalt beteiligt sich am Verfahren.

 

Entscheidungsgründe

12

Die Revision hat keinen Erfolg.

13

1. Kläger im vorliegenden Verfahren sind neben der Klägerin M W deren beide Kinder R und W.

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Die Klägerin M W hat zwar allein Hilfe zum Lebensunterhalt beantragt. Das ist jedoch ohne Bedeutung. Sozialhilfe wird auch ohne Antrag gewährt (§ 5 des Bundessozialhilfegesetzes vom 30. Juni 1961 (BGBl. I S. 815) mit späteren Änderungen -- BSHG --). Infolgedessen kommt es rechtlich allein darauf an, welcher Sozialhilfefall dem Beklagten unterbreitet worden war und welcher Sozialhilfefall von ihm geregelt worden ist. Insoweit ergibt sich aber aus den angefochtenen Bescheiden, daß nicht allein ein Anspruch der Klägerin zu 1) auf Hilfe zum Lebensunterhalt beschieden worden ist, sondern zugleich jedenfalls auch der Anspruch ihrer Kinder R und W. Dementsprechend ist auch im gerichtlichen Verfahren zu Recht nicht allein geprüft worden, ob die Klägerin M W Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt hat, sondern auch, ob ein derartiger Anspruch den beiden Kindern zusteht. Da § 11 BSHG jedem einzelnen Hilfsbedürftigen einen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt gewährleistet, sind demnach im Rubrum des Urteils neben der Klägerin zu 1) die von ihr gesetzlich vertretenen Kinder R und W aufzuführen. Die Klägerin M W hat der Klarstellung des Rubrums zugestimmt.

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2. Nachzuprüfen ist im vorliegenden Verfahren allein, ob den Klägern im Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung am 2. September 1963 ein Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt zustand, weil sie hilfsbedürftig waren.

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Zwar handelt es sich bei der Klage auf Bewilligung von Hilfe zum Lebensunterhalt um eine Verpflichtungsklage, bei der es für die rechtliche Beurteilung regelmäßig auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ankommt. Indessen erleidet diese Regel bei Klagen auf Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz vielfach schon deshalb eine Ausnahme, weil wegen der laufenden Anpassung der Regelsätze die Leistungsbewilligung nicht anders behandelt werden kann, als die Leistungsbewilligung auf Grund eines Zeitabschnittgesetzes. Hier ist aber auf die Lage in dem jeweiligen Leistungsabschnitt abzustellen (Urteil des Senats vom 6. Januar 1958 -- BVerwG V C 108.56 -- (Buchholz BVerwG 332, § 72 MRVO 165 Nr. 5)).

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Bei der gerichtlichen Nachprüfung ist hierbei die tatsächliche Entwicklung des Sozialhilfefalles nach Erlaß der letzten behördlichen Entscheidung außer acht zu lassen.

18

Die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz stellt keine rentengleiche wirtschaftliche Dauerleistung dar. Sie ist Hilfe für eine bestimmte Person in einer bestimmten Notsituation. Zwar wird die Hilfe zum Lebensunterhalt zum Teil in der Form von Regelleistungen erbracht. Dies ändert jedoch rechtlich nichts daran, daß das Bundessozialhilfegesetz den einzelnen Hilfesuchenden mit seinen wechselnden Bedürfnissen und Wünschen in einer konkreten Notsituation sieht und daß die Hilfe auf diese sich ständig wandelnde Lage auszurichten ist (§ 3 BSHG). Schon hieraus folgt, daß die verwaltungsgerichtliche Kontrolle bei dem Sachverhalt ansetzen muß, der sich der Behörde im Zeitpunkt ihrer letzten Entscheidung darbot. Wegen der sich ständig wandelnden Lage des Hilfesuchenden und der dieser Lage anzupassenden Hilfe wird der Sozialhilfefall gleichsam täglich erneut regelungsbedürftig; oder anders gewendet: dem Träger der Sozialhilfe bietet sich gleichsam täglich ein neuer Sozialhilfefall zur Regelung an. Eine andere Auffassung würde auch den praktischen Erfordernissen der Sozialhilfe nicht gerecht. Das Gericht ist zwar imstande, die Rechtskontrolle über die Tätigkeit der Träger der Sozialhilfe auszuüben. Indessen könnte es während der Dauer des gerichtlichen Verfahrens, wenn überhaupt, so doch nur unvollkommen den Sozialhilfefall unter Kontrolle halten. Es kann den Hilfesuchenden weder beraten (§ 8 BSHG), noch kann es die durch Einzelleistungen zu befriedigenden Bedürfnisse des Hilfesuchenden aufspüren und dessen Wünschen im Rahmen des dem Träger der Sozialhilfe zustehenden Ermessens gerecht werden. Schließlich würde die Auffassung, das Gericht habe den Sozialhilfefall auch während der Dauer des gerichtlichen Verfahrens unter Kontrolle zu halten, die im Sozialhilferecht besonders bedeutsamen Vorschriften über das Vorverfahren vernachlässigen müssen.

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Die Notwendigkeit, von dem Sachverhalt auszugehen, der im Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung gegeben war, besagt dabei nicht, daß es ausgeschlossen sei, im Verlaufe des gerichtlichen Verfahrens weitere behördliche Bescheide -- nach Abwicklung des Vorverfahrens -- in das gerichtliche Verfahren einzuführen. Hierzu und zu der weiteren Frage, wie im Falle der Untätigkeit des Trägers der Sozialhilfe zu verfahren ist, braucht jedoch im vorliegenden Falle nicht Stellung genommen zu werden; denn es ist weder ersichtlich, daß der Träger der Sozialhilfe im vorliegenden Falle untätig geblieben wäre, noch ist ersichtlich, daß die Bescheide, die nach Erlaß des Bescheides vom 2. September 1963 womöglich ergangen sind, der Nachprüfung in dem nach § 114 BSHG angeordneten Vorverfahren unterzogen worden wären.

20

Hiernach ist die Klage, soweit sie nicht allein die Bescheide vom 3. Mai und 2. September 1963 betrifft, schon mangels des vorgeschriebenen Vorverfahrens unzulässig (Urteil vom 24. November 1965 -- BVerwG V C 90.65 -- (FEVS 13, 206)) und die Revision aus diesem Grunde zurückzuweisen.

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3. Die Kläger waren nicht hilfsbedürftig und haben deshalb auch keinen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt.

22

In dem angefochtenen Urteil ist die Frage der Hilfsbedürftigkeit unter Gegenüberstellung des Gesamtbedarfs der Klägerin zu 1) und ihrer beiden Kinder auf der einen Seite und des Gesamteinkommens auf der anderen Seite beantwortet worden. Das ist rechtlich zu beanstanden.

23

Das Bundessozialhilfegesetz ist von dem in § 5 der früher geltenden Reichsgrundsätze enthaltenen Grundsatz abgegangen, wonach bei der Beurteilung der Hilfsbedürftigkeit auch das Bestehen einer Unterhaltsverpflichtung zu berücksichtigen ist. § 11 BSHG räumt jedem einzelnen Hilfsbedürftigen einen selbständigen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt ein. Hierauf weist der Oberbundesanwalt zutreffend hin.

24

Insbesondere hat die bürgerlich-rechtliche Regelung über den Umfang des Familienunterhalts (§ 1360 a BGB) keinen Einfluß auf die Bemessung der Hilfe zum Lebensunterhalt. Dabei kann nicht einmal von einem Verhältnis der Spezialität zwischen § 11 BSHG und § 1360 a BGB ausgegangen werden; denn beide Vorschriften regeln verschiedene Sachverhalte. Die Sozialhilfe knüpft nicht an die bürgerlich-rechtlichen Unterhaltsregelungen, insbesondere nicht an das Bestehen einer Unterhaltspflicht und deren Umfang an (die Überleitung von Unterhaltsansprüchen kann dabei im vorliegenden Falle auf sich beruhen). Maßgeblich ist vielmehr, ob tatsächlich Hilfsbedürftigkeit vorliegt. Dies hat der Senat bereits früher hervorgehoben (u. a. Urteile vom 27. Januar 1965 (BVerwGE 20, 188) und vom 2. Juni 1965 (BVerwGE 21, 208)). Andererseits berührt die Sozialhilfe auch nicht bestehende Unterhaltspflichten (§ 2 Abs. 2 BSHG).

25

Freilich bleibt das Familienband nicht gänzlich außer Betracht. Einmal wirkt sich das Bestehen einer auf rechtlicher oder sittlicher Grundlage bestehenden Unterhaltsverpflichtung im Rahmen des § 16 BSHG aus. Indessen läßt das Sozialhilferecht auch hier die bestehenden bürgerlich-rechtlichen Unterhaltsverpflichtungen unberührt. Maßgebend ist allein das Zusammenleben in einem Haus halt und die Leistungsfähigkeit der Angehörigen (dazu Urteil vom 23. Februar 1966 -- BVerwG V C 93.64 --). Zum anderen drückt sich die Bedeutung der Haushaltsgemeinschaft und damit auch der Familiengemeinschaft in der Bemessung der Regelsätze aus, die für den Haushaltungsvorstand und die Haushaltsangehörigen verschieden hoch sind (§ 2 der Regelsatzverordnung vom 20. Juli 1962 (BGBl. I S. 515)). Indessen handelt es sich auch hier um eine rein tatsächliche Auswirkung eines bestehenden Familienbandes. Rechtlich kommt es auf das Bestehen einer Unterhaltsverpflichtung nicht an (dazu Beschluß des Senats vom 30. Dezember 1965 -- BVerwG V B 152.65 --). Freilich könnte geltend gemacht werden, wegen des Regelsatzes des Haushaltsvorstandes, der auch die Generalunkosten des Haushalts insoweit erfaßt, als sie durch die Haushaltsangehörigen hervorgerufen werden, sei es nicht gerechtfertigt, bei den Haushaltsangehörigen die bestehenden Unterhaltsverpflichtungen außer Betracht zu lassen. Indessen würde eine derartige Überlegung fehlgehen. Die Generalunkosten werden bei der Bemessung des Bedarfs nicht deshalb dem Haushaltsvorstand zugerechnet, weil er gegenüber den Haushaltsangehörigen die Verpflichtung zur Tragung dieser Kosten hätte, sondern deshalb, weil er sie tatsächlich trägt und sein Bedarf unter diesen Umständen höher ist als der der Haushaltsangehörigen (dazu BVerwGE 15, 306). Auch die Regelsatzverordnung zwingt deshalb nicht zu der Annahme, nur bei Zusammenrechnung der Einkommen werde dem Gesamtbedarf in ausreichender Weise Rechnung getragen. Hiernach ist die Hilfsbedürftigkeit für die Klägerin zu 1) und ihre beiden Kinder gesondert festzustellen. Die weiteren Kinder müssen dagegen außer Betracht bleiben, weil sie sowohl bei der Ermittlung des Bedarfs als auch des Einkommens nicht berücksichtigt worden sind. Das Einkommen der nicht bedürftigen Kinder der Klägerin zu 1) ist auch nicht bei dem Einkommen der Klägerin zu 1) und dem Einkommen ihrer beiden jüngsten Kinder zu berücksichtigen. Nach § 11 Abs. 1 BSHG ist in bestimmten Fällen das Einkommen (und Vermögen) der Eltern bei der Ermittlung der Bedürftigkeit der Kinder zu berücksichtigen, nicht umgekehrt. Das Einkommen der nicht bedürftigen Kinder der Klägerin zu 1) könnte wohl über § 16 BSHG Bedeutung erlangen. Indessen ist in den angefochtenen Bescheiden von dieser rechtlichen Möglichkeit kein Gebrauch gemacht worden. Im übrigen kommt es hierauf auch, wie unten darzulegen sein wird, nicht an, weil die Kläger nicht hilfsbedürftig sind, und zwar ohne Rücksicht auf § 16 BSHG.

26

Das Einkommen der Kläger in dem hier maßgeblichen Zeitpunkt liegt zwar insgesamt ziffernmäßig fest. Jedoch fehlt es an einer Aufschlüsselung, inwieweit einzelne Einkommensteile den einzelnen Personen zuzurechnen sind. Indessen vermag das Revisionsgericht diese Aufteilung vorzunehmen; denn wegen der rechtlichen Qualifikation der einzelnen Einkommensteile läßt sich darauf schließen, was den einzelnen Familienmitgliedern zuzurechnen ist.

27

Die Klägerin zu 1) selbst hat ein Einkommen aus Witwenrente in Höhe von 97,70 DM. Dieses Einkommen ist nach § 76 BSHG als ihr Einkommen zu berücksichtigen.

28

Bei dem Kindergeld ist von einem Gesamtbetrag von 65 DM ausgegangen worden. Da das Kind W das zweitjüngste Kind der Klägerin zu 1) ist und das Kind R das jüngste, kann der Gesamtbetrag nur wie folgt aufgeteilt werden: auf das Kind R als drittes der unter 18 Jahre alten Kinder entfallen 40 DM (§ 4 des Kindergeldgesetzes in der Fassung vom 16. März 1959 -- BGBl. I S. 153 --) und auf das Kind W als zweites der Kinder unter 18 Jahren 25 DM (§ 5 des Kindergeldkassengesetzes vom 18. Juli 1961 -- BGBl. I S. 1001 --). Fraglich ist jedoch, ob das Kindergeld der Klägerin zu 1) oder ihren beiden Kindern zuzurechnen ist.

29

Der Senat hat in seinem bereits erwähnten Urteil vom 27. Januar 1965 ausgesprochen, daß eine Mutter das ihr gewährte Zweitkindergeld sich nicht als eigenes Einkommen auf die ihr gewährte Hilfe zum Lebensunterhalt anzurechnen lassen braucht, wenn sie das Kindergeld ihrem einkommens- und vermögenslosen Kinde zuwendet. Dasselbe muß für das Kindergeld nach dem Kindergeldgesetz gelten. Dieses Urteil ist zwar kritisiert worden. Indessen geht die Kritik fehl. Einmal beachtet sie nicht ausreichend, daß Art. 6 GG Pflicht und Recht der Eltern zur Pflege der Kinder gewährleistet. Zum anderen bedeutet das Urteil des Senats, wie der vorliegende Fall zeigt, für den Regelfall der intakten Familie keine Verdrängung der §§ 76, 77 BSHG, sondern eine familiengerechte Verteilung des Kindergeldes. An dem Urteil des Senats ist daher festzuhalten.

30

Da im vorliegenden Falle die Kinder W und R im Haushalt der Klägerin zu 1) leben, kann mangels eines gegenteiligen Vorbringens der Klägerin zu 1) davon ausgegangen werden, daß diese das Kindergeld insoweit den Kindern zuwendet, als es erforderlich ist, deren sozialhilferechtlichen Bedarf zu decken. Dagegen kann bei der Höhe des Einkommens der Mutter nicht angenommen werden, daß sie den Kindern mehr zuwendet, solange nicht ihr eigener sozialhilferechtlicher Bedarf gedeckt ist.

31

Schließlich beziehen die Kinder der Klägerin zu 1) Waisenrente insgesamt in Höhe von 133,20 DM. Nach dem Zusammenhang kann es sich hier nur um eine Waisenrente nach der Reichsversicherungsordnung handeln (§ 1267 RVO). Diese Waisenrente wird den Kindern des verstorbenen Versicherten gewährt, zählt also sozialhilferechtlich zu dem Einkommen der Kinder. Ferner kann davon ausgegangen werden, daß die Kinder die Waisenrente je zu gleichen Teilen beziehen. Infolgedessen hat jedes Kind ein Einkommen aus Waisenrente in Höhe von 66,60 DM.

32

Hieraus ergibt sich folgende Berechnung

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Sohn W:
Regel-Bedarf nach den nicht angegriffenen Feststellungen
des Berufungsgerichts: 82,-- DM.
Einkommen: a) aus Waisenrente 66,60 DM
b) aus Kindergeld 15,40 DM
zusammen: 82,-- DM

34

Es bleibt somit kein sozialhilferechtlich zu deckender Regelbedarf. Eine Anrechnung des Einkommens der Klägerin zu 1) nach § 11 Abs. 1 BSHG kann danach ausscheiden.

35
Tochter R:
Regel-Bedarf nach den nicht angegriffenen Feststellungen
des Berufungsgerichts: 68,-- DM.
Einkommen: a) aus Waisenrente 66,60 DM
b) aus Kindergeld 1,40 DM
zusammen: 68,-- DM

36

Es bleibt mithin ebenfalls kein sozialhilferechtlich zu deckender Regelbedarf.

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Klägerin zu 1):
Regel-Bedarf nach den nicht angegriffenen Feststellungen
des Berufungsgerichts: 97 DM + Mehrbedarf nach § 23 Abs. 2
BSHG = 19,40 DM = 116,40 DM.
Einkommen: a) aus Witwenrente 97,70 DM
b) aus Kindergeld 65 DM, abzüglich
des bei den Kindern angerechneten
Kindergeldes (16,80 DM) 48,20 DM
zusammen: 145,90 DM

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Es bleibt mithin kein sozialhilferechtlicher Regelbedarf, und zwar auch dann nicht, wenn eine monatliche Sterbegeldzahlung von 1 DM dem Bedarf zugerechnet würde.

39

Die Klägerin zu 1) hat freilich im Berufungsverfahren geltend gemacht, ihr Bedarf werde mit den Regelsätzen nicht gedeckt. Nach § 3 Abs. 1 BSHG richten sich Art, Form und Maß der Sozialhilfe nach den Besonderheiten des Einzelfalles. Ferner sollen nach § 7 BSHG bei der Gewährung der Sozialhilfe die besonderen Verhältnisse in der Familie des Hilfesuchenden berücksichtigt werden. Der in diesen Vorschriften zum Ausdruck gebrachte Grundsatz der Individualisierung der Sozialhilfe erleidet jedoch bei der laufenden Hilfe zum Lebensunterhalt, die auch im vorliegenden Falle begehrt wird, eine Einschränkung. Nach § 22 Abs. 1 BSHG werden laufende Leistungen zum Lebensunterhalt außerhalb von Anstalten, Heimen und gleichartigen Einrichtungen nach Regelsätzen gewährt, soweit es nach den Besonderheiten des Einzelfalles nicht geboten ist, die Leistungen abweichend von den Regelsätzen zu bemessen. Nach dem systematischen Zusammenhang der Vorschriften der §§ 3, 7 und 22 BSHG kann das nur bedeuten, daß zwar auch bei der laufenden Hilfe zum Lebensunterhalt den Besonderheiten des einzelnen Falles Rechnung zu tragen ist, dies jedoch nur dann, wenn die Regelleistungen nicht geeignet sind, den Besonderheiten des einzelnen Falles zu genügen. Eine Abweichung von den Regelsätzen ist mithin nur dann geboten, wenn ein laufender Bedarf vorliegt, der von der typisierten Bedarfsberechnung der Regelsätze nicht erfaßt wird. Nach § 1 Abs. 1 der Regelsatzverordnung umfassen die Regelsätze die laufenden Leistungen für Ernährung, Kochfeuerung, Beschaffung von Wäsche von geringem Anschaffungswert, Instandhaltung von Kleidung, Wäsche und Schuhen in kleinerem Umfang, Körperpflege, Beschaffung von Hausrat von geringem Anschaffungswert, kleinere Instandsetzungen von Hausrat, Beleuchtung, Reinigung und persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens. Dagegen kann im Rahmen der laufenden Hilfe nicht ein Bedarf Berücksichtigung finden, der über den laufenden Bedarf hinausgeht, so etwa der Bedarf an Bettwäsche und Kleidung, soweit er über die Beschaffung von Wäsche von geringem Anschaffungswert hinausgeht. Dieser Bedarf ist vielmehr durch einmalige Leistungen nach § 21 Abs. 1 BSHG zu decken. Der Bedarf an Winterfeuerung, soweit er laufend entsteht, ist überdies nach § 3 Abs. 2 der Regelsatzverordnung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen zu decken. Wird dies in Betracht gezogen, so liegt kein hinreichender Nachweis dafür vor, daß den Besonderheiten des vorliegenden Einzelfalles durch die Gewährung von laufenden Leistungen nach Regelsätzen nicht Rechnung getragen werden kann; denn die Klägerin zu 1) hat ihren Aufwand im Berufungsverfahren zwar auf jährlich 2686,40 DM (außer Ernährung bis auf 160 DM für Winterkartoffeln) beziffert. Indessen ist in diesem Betrag allein ein Kleiderbedarf von 1500 DM, ein Wäschebedarf von 210 DM und ein Brennmaterialbedarf von 400 DM jährlich enthalten. Dieser Bedarf ist aber nicht durch die Regelsätze erfaßt, muß also notfalls im Wege von einmaligen Leistungen gedeckt werden. Daß ein etwaiger Bedarf der Kläger insoweit unbefriedigt geblieben wäre, ist nicht festgestellt. Der Restbedarf, soweit er überhaupt der Klägerin zu 1) mit ihren beiden Kindern W und R allein entstehen sollte, hält sich aber in einem Rahmen, der von den Regelsätzen erfaßt wird.

40

Die Kläger machen im Revisionsverfahren geltend, soweit die Regelsätze nicht eine Mindesthilfe von 200 DM (je Person) zuließen, verstießen sie gegen die Vorschriften des Bundessozialhilfegesetzes.

41

Dem rechtlichen Ausgangspunkt der Kläger ist zuzustimmen. Die Ermächtigung zum Erlaß einer Rechtsverordnung in § 22 Abs. 2 BSHG über Inhalt und Aufbau der Regelsätze sowie über das Verhältnis der Regelsätze zum Arbeitseinkommen muß, da die Ermächtigung selbst keine ausdrücklichen materiellen Anhaltspunkte über die Höhe der Regelsätze enthält, unter Heranziehung der Grundvorschriften des Bundessozialhilfegesetzes ausgefüllt werden. Danach muß die laufende Hilfe zum Lebensunterhalt ein Leben ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht (§ 1 Abs. 2 BSHG) und in diesem Rahmen den Bedarf insbesondere für Ernährung, Unterkunft, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Heizung und persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens umfassen (§ 12 Abs. 1 Satz 1 BSHG). Diesen Erfordernissen wird die Regelsatzverordnung gerecht, die, wie oben ausgeführt, die Berücksichtigung des nach § 12 Abs. 1 Satz 1 BSHG anerkannten Bedarfs vorschreibt und im übrigen die Gewährung von Einmalleistungen nicht ausschließt.

42

Zweifeln könnte unter diesen Umständen zunächst die Bestimmung des Verhältnisses der einzelnen Regelsätze zueinander, wie sie in § 2 der Regelsatzverordnung vorgenommen worden ist, begegnen. Die Regelsatzverordnung stützt sich insoweit auf die Verwaltungsvorschriften über den Aufbau der Fürsorgerichtsätze und ihr Verhältnis zum Arbeitseinkommen vom 23. Dezember 1955 (BAnz. Nr. 251/1955) sowie auf Untersuchungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge (siehe Begründung zum Verordnungsentwurf -- Allgemeines --, Bundesratsdrucksache Nr. 159/1962). Die Untersuchungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge haben aber bei der Bestimmung des Verhältnisses des Bedarfs der einzelnen zu unterstützenden Personen nicht zu wesentlich anderen Zahlen geführt, als sie nunmehr in der Verordnung verankert sind. Ausgehend von dem Haushaltsvorstand, dessen Bedarf mit 100 % angesetzt ist, sind folgende Verhältniszahlen errechnet worden: Erwachsene Angehörige 75 -- 80 %, 14 -- 18jährige Angehörige 90 -- 95 %, 7 -- unter 14jährige Angehörige 75 -- 80 % und unter 7 jährige Angehörige 45 -- 50 % (siehe dazu NDV 1962, 59 und 1964, 227 sowie die den Beteiligten bekanntgegebene gutachtliche Äußerung des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge vom 23. Oktober 1961 nebst Ergebnisprotokoll vom 31. August 1961 und Tabellenwerk, vorgelegt dem Bundesminister des Innern). Da diese Verhältniszahlen an dem tatsächlichen Bedarf ausgerichtet sind, und zwar unter Berücksichtigung des im Bundessozialhilfegesetz erteilten Auftrages, dem Hilfesuchenden ein Leben zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht, bestehen keine Bedenken gegen die Deckung des § 2 der Regelsatzverordnung durch die Ermächtigung des § 22 Abs. 2 BSHG. Der Senat ist zwar an diese sachverständigen Äußerungen nicht gebunden, sondern verpflichtet, von sich aus festzustellen, ob sich § 2 der Regelsatzverordnung bei der Bestimmung der Verhältniszahlen im Rahmen der erteilten Ermächtigung hält. Indessen zeigen gerade die vor Abgabe der gutachtlichen Äußerung gepflogenen Erörterungen innerhalb des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, daß vollständiges statistisches Material noch nicht für alle notwendigen Faktoren bei der Bestimmung des menschenwürdigen Lebensbedarfs vorliegt. Unter diesen Umständen und auch mit Rücksicht auf die in gewissen Grenzen wandelbaren Anschauungen über das, was zu einem menschenwürdigen Leben gehört, ist rechtlich lediglich zu prüfen, ob die aus tatsächlichen Gründen einzukalkulierenden Toleranzen nicht überschritten sind, oder anders gewendet, ob bei der Bestimmung der Verhältniszahlen mit der notwendigen Sorgfalt verfahren worden ist. Das kann aber bei einem in Fürsorgesachen so erfahrenen Gremium wie dem Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge ohne weiteres angenommen werden. Ein möglicher wissenschaftlicher Irrtum wegen der nicht möglichen vollständigen Aufklärung der maßgeblichen Faktoren ist unter diesen Umständen rechtlich nicht von Bedeutung. Er ist durch die Ermächtigung gedeckt.

43

Damit ist indessen nicht zugleich entschieden, daß die für den Beklagten geltenden Regelsätze verordnungsgedeckt sind. Soweit ersichtlich, halten sich die von dem Berufungsgericht festgestellten Regelsätze des Beklagten an die Mindestsätze, die für Bayern in der Bekanntmachung vom 17. August 1962 (MABl. S. 509) festgesetzt worden sind. Daß die Regelsatzbestimmungen durch das Bundessozialhilfegesetz und die Regelsatzverordnung der Form nach gedeckt sind, erscheint nicht zweifelhaft; denn § 22 Abs. 3 BSHG bestimmt nicht, daß die Länder die Regelsätze in Form einer Rechtsverordnung festzulegen haben. Ebensowenig findet sich in der Regelsatzverordnung eine dahin gehende Bestimmung. Ob die Festsetzung der Regelsätze für den Beklagten der Form nach den landesrechtlichen Bestimmungen entspricht, ist hier nicht zu erörtern.

44

Inhaltlich hält sich die Regelsatzbestimmung vom 17. August 1962 im Rahmen des Bundessozialhilfegesetzes. Nach Ziffer 3 a. a. O. enthalten die Regelsätze nur die in § 1 der Regelsatzverordnung genannten Leistungen, nicht aber solche Leistungen, die regional unterschiedlich sein können (z. B. notwendige Ausgaben für Straßenbahn, Omnibus). Diese Kosten müßten bei der Festsetzung des Regelsatzes berücksichtigt werden. Der darüber hinausgehende notwendige Lebensunterhalt nach § 12 BSHG, insbesondere Unterkunft, Kleidung, Hausrat, Schuhbesohlungen (nicht aber kleinere Instandsetzungen) sei im Rahmen der individuellen Hilfe nach § 3 Abs. 1 BSHG im Einzelfall besonders abzugelten. Sonach bleibt lediglich die Frage, ob die tatsächlich festgesetzten Mindestsätze dem materiellen Gebot des Bundessozialhilfegesetzes nach der Ermöglichung eines menschenwürdigen Lebens, näher konkretisiert in § 12 BSHG, entsprechen. Das ist der Fall; denn der Warenkorb für 1960 ist nach der der oben angeführten gutachtlichen Äußerung beigegebenen Tabelle (siehe auch NDV 1962, 61) bei dem Haushaltungsvorstand mit 104,38 DM anzusetzen. Da es sich bei dieser Zahl um einen mittleren Wert handeln muß und überdies noch ein Zuschlag eingearbeitet ist, erscheint die Festsetzung eines Mindestregelsatzes von 97 DM für Bayern nicht fehlerhaft. Der Ausgangswert von 104,38 DM ist auf Grund sozialstatistischer und ernährungsphysiologischer Erhebungen sowie unter Beachtung der Verbrauchergewohnheiten unter dem allgemeinen sozialhilferechtlichen Grundsatz der Ermöglichung eines menschenwürdigen Lebens ermittelt worden und unterliegt deshalb ebenfalls keinen Bedenken.

45

Ist aber der Regelsatz des Beklagten nicht zu beanstanden, so können die Kläger nicht mit ihrer Auffassung durchdringen, die aufgemachte Bedarfsberechnung sei nicht geeignet, ihnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.

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Danach ist die Revision mit der sich aus den §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2 VwGO in Verbindung mit § 159 VwGO und § 100 ZPO ergebenden Kostenfolge zurückzuweisen.


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